Pusteblume

Damit hatte ich nicht gerechnet. Mal wieder. Wie so oft in den vergangenen Monaten und Wochen war ich vom „best case“ ausgegangen. Geschadet hat mir diese Zuversicht letztlich nicht. Die Enttäuschung, wenn es dann anders kommt, ist nur größer, der Fall tiefer.

Diesmal betraf es das Thema Haarausfall durch Chemo. Bei der Folfirinox-Chemo fielen meine damals recht langen Haare langsam und nicht vollständig aus. Als es nach vielen Monaten zu zippelig auf meinem Kopf aussah, entschloss ich mich zur radikalen Kürzung der verbliebenen Haare durch Rasur.

Diesmal passierte bereits wenige Tage nach meiner letzten (= zweiten) Chemotherapie für mich Erstaunliches. Zuerst hatte ich sehr unangenehme Schmerzen auf der Kopfhaut, genauer an den Haarwurzeln. Ich kenne das von früher, wenn ich meine dicken, langen Haare mit einer Hochsteckfrisur eine ganz andere als die ihnen vertraute Richtung zugemutet hatte; dann fühlte sich das auch so an. Aber jetzt hatte ich doch, passend zu meiner veränderten Lebenssituation, eine Kurzhaarfrisur, mit der ich mich – insbesondere nachdem die Haare wieder reichlich vorhanden waren, sehr wohl fühlte. Ich weiß jetzt, dass diese Schmerzen die ersten Anzeichen dafür waren, dass sich meine Haare verabschieden.

Auf Kissen und Pullis sah es immer öfter so aus, als wäre eine ihr Winterfell verlierende Katze bei mir eingezogen. Mittlerweile kundig wie mit (möglicherweise einigen) ausfallenden Haaren umzugehen ist, griff ich also meine Bürste, stellte mich auf den Rand der Terrasse, beugte den Kopf vornüber Richtung Rasen und bürstete … und fühlte mich plötzlich wie im Märchen … ich war eine Pusteblume! Überall um mich herum schwebten und glitzerten feine weiße Haare. Flogen, auch ohne Schirmchen, sanft zur Erde. Es hörte gar nicht mehr auf. Also irgendwann hörte es dann schon auf – und dann war der Traum ebenfalls vorüber und die Realität „dieses Mal wird es wohl eine Vollglatze“ erreichte mein Gehirn. Aber mit einem so schönen Bild vor Augen und im Herzen an diese Realität geführt worden zu sein, das hat was. Schon als Kind habe ich es, wie wohl alle Kinder, geliebt, Pusteblumen zu pusten. Und in den vergangenen Jahren gehörte es mit den Enkeln zum Frühling wie das erste Eis im Freien.

Auch jetzt versuche ich, wie im vergangenen Jahr, meine Haare über den Kompost im Garten zu entsorgen – außer denen (kleiner praktischer DIY-Einschub), die mein Hunde-erfahrener Partner sehr geschickt mit Paketklebeband von den Kissen ablöst. Ich finde den Gedanken schön, dass meine ausgefallenen Haare sich verwandeln und Pflanzen als Dünger dienen. Löwenzahn zum Beispiel. Oder Vergissmeinnicht.

Und selbstverständlich puste ich dieses Jahr besonders fleißig Pusteblumen und freue mich an den schwebenden Schirmchen.

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