Karfreitag
In meiner Erinnerung sind die Karfreitage meiner Kindheit immer regnerisch und grau und am Ostersonntag scheint die Sonne. De facto stimmt das natürlich nicht – aber so ist das mit den persönlichen Erinnerungen und den sich daraus entwickelnden Geschichten. Wie auch bei den biblischen Geschichten oder anderen großen Erzählungen spielt der Wahrheitsgehalt meines Erachtens eher eine untergeordnete Rolle.
Entscheidend ist doch das, was den Erzählenden wichtig ist oder auch im Nachhinein wichtig wurde. Was über das Erlebte hinaus trägt. Stimmungen, Bilder, einzelne Sätze, Erfahrungen …
Der heutige Karfreitag deckt sich für mich durchaus mit meinen Kindheitserinnerungen. Nach wunderschönen Frühlingstagen ist nochmal schmuddeliges Winterjackenwetter eingekehrt. Einschließlich Wollmütze und Handschuhe. Auch in mir ist es ziemlich trüb. Immer noch und immer wieder diese Erschöpfung und Müdigkeit.
Mehr als 20 Tabletten, die ich jeden Tag bis in die Nacht hinein schlucken muss. Bei den meisten hat es sehr unmittelbare Folgen, wenn ich sie mal vergesse, von den Insulinspritzen ganz zu schweigen. Manchmal fluppt das alles ganz gut. Dann bin ich sogar ein bisschen stolz darauf, wie ich das alles einigermaßen gut organisiert manage und die Dankbarkeit darüber, dass es das ganze Zeug gibt, überwiegt.
Aber dann gibt es eben auch die trüben Tage, deren größte Tücke es ist, dass sie sich in ihren „besten Zeiten“ so anfühlen, als käme nie wieder irgendwas Anderes. Wenn ich „realistisch“ bin, dann kann es doch für mich als Palliativpatientin nicht wirklich besser werden. Das Jetzt mit all seinen Unannehmlichkeiten (geschmeichelte Umschreibung) ist das Beste, das ich erwarten kann. Forever – meine mir noch verbleibende Lebenszeit – wie lange oder eben auch kurz dieses „Forever“ auch immer ist. Ich hatte mich ja beizeiten gegen Lebenserwartungs-Statistiken entschieden.
Die Ungewissheit lastet schwer. Und so dümpel ich in dieser Mischung tückischer (scheinbar) realistischer Gedanken und sensibler Körperwahrnehmungen vor mich hin. Karfreitag eben. Irgendwann tröstet mich dann der Gedanke etwas, dass ich wahrlich nicht alleine mit solchem Erleben bin. Mir fielen Szenen aus meinen vielen Klinikaufenthalten ein. Und die junge Schwiegertochter einer guten Freundin, die – 30 Jahre jünger als ich –, gerade ähnliches durchlebt. Voller Hoffnung nach langer Chemotherapie haben sich auch bei ihr schon wieder Rezidive eingestellt. Wie bitter. So viele, zu viele, persönliche Karfreitage.
Natürlich ist es schön, dass wir wissen, was auf die Karfreitagsgeschichte in der Bibel folgt. Aber wenn`s richtig dunkel ist, dann ist es eben richtig dunkel. Dann ist kein Licht in Sicht. Dann muss man durch.