Intuition

Ugo Dossi (geboren 1943): Denk‐Ort (2003). Nekropole Kassel. Ausschnitt einer Stahlplatte (sechs Stahlplatten insgesamt)
Ugo Dossi: Denk‐Ort

Jedes Frühjahr staune ich aufs Neue, wie rasant sich Entwicklungsprozesse in der Natur abspielen. Vor drei Wochen waren die alten Bäume in meinem Garten noch kahl und nun freue ich mich jeden Morgen über sattes Grün und sogar der Flieder blüht schon. Das tut meiner Seele so gut. Auch in mir vollziehen sich manche Prozesse ziemlich rasant. Was sich in meinem Körper abspielt, kann ich nur ahnen – und es macht mir große Angst.

Ich versuche, möglichst wenig zu spekulieren. Meine Körperempfindungen sind so vielfältig und meistens schwierig, dass ich meinen Wahrnehmungen nicht mehr recht trauen kann.

Aber auf wiederkehrende Gedanken und Überlegungen und auf meine Intuition, wenn ich mich aus einer inneren Ruhe auf sie einlasse, kann ich mich gut verlassen. Das habe ich im vergangenen Jahr immer und immer wieder erlebt. Und so vertraue ich darauf: Intuition und seelische Prozesse, so schwer sie manchmal auszuhalten sind, werden mir immer wieder zu hilfreichen Begleitern und Wegweisern.

So war es für mich vor drei Wochen beim Arztgespräch über das neu entdeckte Rezidiv ganz klar, dass ich nichts von Statistiken hören wollte. Vielleicht schützt mich mein Inneres vor zu vielen Informationen (die ich vermutlich gar nicht hätte verkraften können) dadurch, dass mir viele Fragen erst nach und nach einfallen. Aber dann drängen sie immer stärker nach Antworten. Ich bin meinem Entschluss treu geblieben, zu wesentlichen medizinischen Fragen nicht das Internet zu kontaktieren. Schon gar nicht zu konkreten Fragen meine Erkrankung betreffend.

Zu meinem großen Glück kann mir meine Tochter (Ärztin) ganz wunderbar Begriffe und Zusammenhänge erklären. Aber sie ist auch verantwortungsvoll genug, konkrete Aussagen oder gar Prognosen nur faktenbasiert, also aufgrund vorliegender Diagnosen, zu treffen. Und an die zu kommen, dauert schon mal einige Wochen …

Heute war ich zur Blutkontrolle in der Onkologischen Praxis und so habe ich die Gelegenheit genutzt, um – präpariert mit konkreten, schriftlichen Fragen – freundlich und dringlich um ein kurzes Gespräch mit dem Onkologen zu bitten.

Die Beantwortung meiner Fragen und die daraus resultierenden Erkenntnisse waren nicht angenehm. Ich bat unter Anderem nun doch um eine statistische Größenordnung, was meine Lebenserwartung betrifft. „Wir reden eher von Monaten als von Jahren“… so seine Worte. Ja, das entspricht meinem Gefühl, meiner Intuition. Ich bin traurig. Aber tief in mir nicht verwundert. Nicht erschüttert. Es ist ein Prozess in mir im Gange, der über die körperlichen Prozesse hinausgeht. Der Arzt ermutigt mich, unbedingt meiner Intuition zu trauen. Sie ist wesentlicher als alle Statistik, sagt er. Ja, ich denke, sie ist sogar unabdingbar, um Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen (z.B. im Umgang mit der Chemotherapie), Kraftquellen zu erschließen.

Es ist Abend. Es gewittert. Ich bin noch immer traurig. Aber irgendwie auch voller Träume und Ideen. Bald werde ich meinen Blog beginnen. Und in drei Wochen kommt mein neues Sofa. Und Monate können noch einige sein und vor allem ganz schön voller Leben.

Bestimmt kommen auch wieder Momente der Verzweiflung, des Aufbegehrens und der Verunsicherung, was meine Intuition betrifft. Wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen, wenn mich nach der Chemo wieder Übelkeit und Schwäche flutet. Dann kann ich ja vielleicht das hier Geschriebene lesen und mich erinnern: auch meine hoffnungsvollen, träumerischen und unternehmenslustigen Momente gehören zu meiner Realität.

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