Glückselig

Es gibt Momente der Glückseligkeit, die von Traurigkeit durchwoben sind. Glückseligkeit und Traurigkeit fließen ineinander, und so entsteht ein Moment völligen Seins – eine Seins-Intensität, die ich in letzter Zeit immer wieder erlebe und die ich vor meiner Erkrankung so nicht kannte.

Letztes Wochenende zum Beispiel. Ich war zu Besuch bei meiner Tochter und ihrer Familie. Nach zwei Stunden Anreise und einem fröhlichen Begrüßungskaffeetrinken war ich müde. Mein siebenjähriger Enkel weiß und merkt, dass Oma krank und vieles jetzt anders ist als früher. Diesmal zeigt er sich besonders fürsorglich. Er schlägt für eine Ausruh-Kuschelzeit vor, gemeinsam ein Hörspiel zu hören. „Ninjago, ist zu aufregend für dich“, sinniert er, „aber Yakari müsste gehen.“ Ich bin heiter berührt und angetan von seiner Empathie. Im gleichen Augenblick trifft mich die Erkenntnis, warum eine solche Situation – quasi mit vertauschten Rollen – überhaupt besteht, mitten ins Herz.

Später dann, wir sitzen beim Abendessen, beginnt es plötzlich heftig zu regnen. Und das bei strahlendem Sonnenschein. Wir alle lieben Regenbögen. Schon früher war in unserer Familie ein vermuteter Regenbogen Grund genug dafür, eine gemeinsame Mahlzeit zu unterbrechen. Und das sollte was heißen. Außer dem seltenen Notfall ausgebrochener Rinder (für Lese-Neueinsteiger*innen: wir hatten einen Bauernhof, auf dem es Rinder aller Altersklassen gab) führte kaum etwas dazu, die Tischgemeinschaft kurzzeitig aufzulösen. Oder besser gesagt: kurzzeitig umzusiedeln. Denn das Gefühl, einen Regenbogen zu bestaunen, noch dazu gemeinsam, löst bei mir seit jeher ein ausgeprägtes Bauch- und Herzkribbeln aus. Das Naturschauspiel fasziniert mich und die Erinnerung an die Noah-Geschichte mit allem, was sie an Hoffnung und Zusage enthält, schwingt jedes Mal mit.

Drei Erwachsene und zwei Kinder rennen also hoffnungsvoll vor die Haustür und werden nicht enttäuscht. Ein wunderschöner Regenbogen hat sich bereits gebildet und es entsteht noch ein zarter zweiter Bogen. Das ist wirklich Königsklasse. Alle sind begeistert. Meine Tochter und ich schwelgen in Erinnerungen, welche Regenbögen wir wann wo gemeinsam gesehen haben.

Währenddessen springt der ältere Enkel begeistert und voller Lust auf taktile Sinneswahrnehmungen mitten in den Regen. Sein Bruder folgt ihm nur deshalb nicht, weil er auf Mutters Arm sitzt.

So stehe ich da, voll von Gefühlen, Gedanken und Liebe. Tränen rollen mir über die Wangen. Mitten in dieser Glückseligkeit erwischt mich die Traurigkeit. Intensiv und volle Kanne. Uneingeladen grätscht sie rein. Da ich es eh nicht ändern kann, lass ich ihn einfach wirken: den Moment völligen Seins. So ist es.

 

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